Begrenzte Diesel-Fahrverbote auf einzelnen Straßen bringen aus Sicht von Wissenschaftlern wenig für bessere Luft in Städten. Die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina warnt in einer Stellungnahme zur Luftreinhaltung in Deutschland vor "kurzfristigem Aktionismus". Stattdessen empfiehlt sie eine umfassende und nachhaltige Strategie sowie eine grundlegende Verkehrswende.
Die Wissenschaftler kritisieren eine Verengung der Debatte auf Stickstoffdioxid (NO2) durch Diesel-Abgase. Dies sei "nicht zielführend", heißt es in dem am Dienstag vorgelegten Papier. Feinstaub sei deutlich schädlicher für die Gesundheit. Über die Luft könne Feinstaub in die Lunge gelangen, und zwar umso tiefer, je kleiner die Partikel seien. "Er kann Sterblichkeit erhöhen und Erkrankungen der Atemwege, des Herz-Kreislauf-Systems und weitere Erkrankungen wie etwa Lungenkrebs verursachen."
EU-Grenzwert in der Kritik
In die Kritik geraten war aber angesichts von Diesel-Fahrverboten in Städten vor allem der seit 2010 verbindliche EU-Grenzwert für NO2 von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Eine Gruppe von Lungenärzten hatte Streit ausgelöst, weil sie den gesundheitlichen Nutzen der Grenzwerte anzweifelte. Dagegen gab es aber breiten Widerspruch deutscher und internationaler Experten. Um Klarheit zu schaffen, hatte die Bundesregierung die Leopoldina um eine Stellungnahme gebeten.
Die NO2-Grenzwerte sind Grundlage dafür, dass es in mehreren Städten durch Gerichtsurteile Fahrverbote für Dieselfahrzeuge gibt. Denn in vielen Städten werden die Grenzwerte überschritten. Bisher sind in Hamburg zwei Straßenabschnitte für ältere Diesel gesperrt, in Stuttgart dagegen ein großer Teil der Stadt.
Die Wissenschaftler teilten nun mit, "lokale Maßnahmen und kurzfristiger Aktionismus" seien wenig hilfreich, um die Luftqualität nachhaltig zu verbessern. Zu den gesundheitlich wenig sinnvollen Maßnahmen zählten "kleinräumige und kurzfristige Beschränkungen", die sich gegen einzelne Verursacher der NO2-Belastungen richteten. "Dies gilt unter anderem für Straßensperrungen und isolierte Fahrverbote, die zu einer Verkehrsverlagerung in andere Stadtgebiete führen."
Martin Lohse, Vize-Präsident der Leopoldina, sagte, es sei "Unfug", sich auf Stickstoffoxid zu konzentrieren. Eine Verschärfung des Grenzwerts sei aus wissenschaftlicher Sicht "nicht vordringlich". Die Wissenschaftler weisen zudem darauf hin, dass die NO2-Belastung durch den Verkehr in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesunken sei. Sie lasse sich weiter senken, zum Beispiel durch den Einsatz neuester Fahrzeugmodelle oder die Nachrüstung älterer Busse.
Neue Mobilitätskonzepte gefordert
Weiter heißt es, die Verringerung der Stickstoffdioxidbelastung dürfe nicht dazu führen, dass klimaschädliche CO2-Emissionen steigen. Ein kompletter Austausch der Dieselflotte durch Fahrzeuge gleicher Gewichtsklasse und gleicher Motorleistung mit Benzinmotoren sei aus Klimaschutzgründen nicht empfehlenswert. Dies zielt darauf, dass Diesel bei gleicher Motorenleistung mehr Stickstoffoxid ausstoßen, aber weniger CO2. Vielmehr seien "neue Mobilitätskonzepte vor allem in städtischen Ballungsräumen" notwendig.
Dass Feinstaub die Gesundheit stärker gefährde als Stickoxide (NOx), bedeute aber nicht, dass diese nicht gesundheitsgefährdend seien. Sie könnten die Symptome von Lungenerkrankungen wie Asthma verschlimmern und trügen zur Bildung von Feinstaub und Ozon bei.
Als größeres Problem sehen die Wissenschaftler aber Feinstaub. Die Politik solle prüfen, ob die Grenzwerte verschärft werden sollten. Die Grenzwerte in der EU seien weniger streng als bei Stickstoffoxid. Sie sind zudem auch weniger streng als die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Feinstaub kommt aus vielen Quellen. Die winzigen Partikel schweben eine gewisse Zeit in der Luft. Die feinen Teilchen kommen in Dieselruß, Reifenabrieb oder in Abgasen von Industrie-, Kraftwerks-und Heizungsanlagen vor.
Weder für Stickstoffdioxid noch für Feinstaub aber sei eine exakte Grenzziehung möglich zwischen gefährlich und ungefährlich, heißt es in der Stellungnahme – im Sinne eines Schwellenwertes, unterhalb dessen keine Gesundheitseffekte zu erwarten sind. Am Ende seien Grenzwerte eine Entscheidung der Politik.
Die Wissenschaftler sprechen sich generell für eine Verkehrswende aus. Dazu zählten alternative Antriebe wie Elektromotoren, ein besseres Verkehrsmanagement und Geschwindigkeitsbeschränkungen auf städtischen Autobahnen – aber auch ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.
Scheuer fordert erneut Debatte über Schadstoff-Grenzwerte
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat nach der Stellungnahme der Wissenschaftsakademie Leopoldina erneut eine Debatte über Schadstoff-Grenzwerte gefordert. "Wir müssen über die Sinnhaftigkeit von Grenzwerten sprechen", sagte Scheuer am Dienstag in Berlin. "Das Gutachten ist eine Steilvorlage für eine erneute Diskussion." Keine deutsche Stadt liege über dem Feinstaub-Grenzwert. "Grenzwerte dürfen nicht politisch-ideologisch festgesetzt sein. Sie müssen erreichbar sein. Wir müssen Fahrverbote vermeiden, zum Beispiel durch Förderprogramme für gute Luft." (dpa)