Von Benjamin Bessinger/SP-X
Die Marke ist klein, aber die Ambitionen sind dafür umso größer: Wenn in diesen Tagen zu Preisen ab 44.500 Euro der neue Q60 auf die Straße kommt, dann ist das in den Augen von Konzernchef Carlos Ghosn nichts weniger als ein Coupé, auf das die verwöhnte Kundschaft in der Oberliga seit Jahren gewartet hat. Ob das die Käufer von Audi A5, BMW 4er und Mercedes C-Klasse Coupé wirklich so sehen, sei mal dahingestellt.
Doch zumindest Roland Krüger dürfte den Zweitürer tatsächlich herbeigesehnt haben. Er ist der Vorstand der noblen Nissan-Tochter und musste zuletzt oft gute Miene zu einem nicht ganz so schönen Spiel machen. Denn was er seinen Kunden in den letzten zwei Jahren als kleine Revolution und großen Schritt in die Kompaktklasse verkauft hat, war nichts anderes als ein feiner Etiketten-Schwindel. Schließlich sind Q30 und QX30 nur verkleidete Varianten von Mercedes A-Klasse und GLA. Umso stolzer ist Krüger deshalb auf den Q60, der "mit seinem kühnen Design nicht nur kraftvolle Eleganz zum Ausdruck bringt, sondern auch über die Mitte verfügt, dieses Versprechen einzulösen und den Führungsanspruch von Infiniti in der Klasse zu untermauern."
Und man kann dem Manager nicht einmal böse sein. Denn der 4,69 Meter lange Zweitürer sieht tatsächlich klasse aus und hebt sich mit seinen Adleraugen, dem nach außen gewölbten Grill, den weit ausgestellten Kotflügeln und der Chromsichel am Ende der Fensterlinie erfrischend aus dem einerlei der deutschen Coupé-Flotte ab.
Was außen ein echter Pluspunkt ist, verkehrt sich innen allerdings ins Gegenteil. Die Materialauswahl ist zwar piekfein, und dass Hinterbänkler bei einem Coupé weder gut einsteigen, noch bequem sitzen können, gehört fast schon zum guten Ton. Aber das Cockpit ist so schwülstig geformt und so schillernd dekoriert, dass es dem Guten ein bisschen zu viel ist. Außerdem wirken die Anzeigen und Bedienelemente bis hin zur verstaubten Fußraste für die Feststellbremse so antiquiert, dass es der faszinierend brillante Bildschirm für das neue Infotainment-System InTouch auch nicht herausreißt. Erst recht nicht, wenn darüber noch ein alter Touchscreen flimmert, der im direkten Vergleich wie ein Röhrenfernseher neben einem Plasma-Bildschirm wirkt.
Noch immer einzigartige E-Lenkung
Gut, dass der Fahrer die Augen ohnehin die meiste Zeit auf der Straße hat und dort ein spannendes Programm geboten bekommt. Denn Infiniti beherrscht die Kunst der schönen Kurve nicht nur beim Karosseriedesign, sondern auch auf der Straße: Wo sich die bisherigen Modelle der Japaner bei aller Leistung vergleichsweise beliebig fahren und einen am Steuer entsprechen kalt lassen, springt hier schon eher ein Funke über. Die noch immer einzigartige E-Lenkung, die ohne mechanische Verbindung auskommt, fühlt sich in der zweiten Generation viel bestimmter und verbindlicher an. Das adaptive Fahrwerk reagiert flott und vorhersehbar, und wenn man den Drive-Mode-Schalter auf Sport wippt, wird der Q60 zum bislang agilsten und ambitioniertesten Auto der Marke.
In Fahrt bringen den Q60 bei uns zwei Motoren: Ein 2,0 Liter großer Vierzylinder, bei dem sich mit 155 kW / 211 PS und 350 Nm der Funkenflug in Sachen Fahrfreude eher in Grenzen halten dürfte. Und ein nagelneuer V6-Benziner, der mit drei Litern Hubraum dem Diktat des Downsizings folgt und den bisherigen 3,7 Liter ersetzt. Mit zwei angenehm spontanen Turbos gekoppelt, bringt er es auf 405 PS und geht mit bis zu 475 Nm zu Werke. Dank einer flotten Automatik und dem beim Sechszylinder serienmäßigen Allrad-Antrieb reicht das für einen Sprintwert von 5,0 Sekunden. Und natürlich schafft der V6 mühelos das von der Konkurrenz vorgegebene Klassenziel von 250 km/h. Nur sonderlich sparsam ist der Flachmann nicht: Für den Vierzylinder nennt Infiniti einen Normverbrauch von 6,8 und für den V6 stehen sogar 9,1 Liter in der Liste.
Aber auch dagegen hat Krüger schon ein Rezept: Bald bringen die Japaner den ersten und bislang einzigen Benziner mit variabler Verdichtung und versprechen so für den VCT genannten Vierzylinder-Turbo die Power eines V6-Motors und den Verbrauch eines Diesels. Darauf ist Krüger nicht minder stolz als auf den Q60. "Denn das ist eine Technik, an der zahlreiche Hersteller seit Jahren forschen. Aber wir sind die ersten, die das Rätsel gelöst haben." Mit so viel Selbstbewusstsein kann man auch ein paar Kuckuckskinder im Modellprogramm ertragen.
MG